Rezension

(Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors)

Friedhelm Flamme, Der Pianist und Komponist Friedrich Gulda. Studien zu Repertoire und kompositorischem Schaffen, Göttingen 2006

Ein großes, ein schweres, ein gehaltvolles Buch: Im DIN-A-4-Format, mit über 1.200 Gramm Gewicht bietet Friedhelm Flammes Dissertation erstmals einen kompletten Überblick über das kompositorische Werk Friedrich Guldas (dieser Werkkatalog nimmt mehr als 80% des Buches ein) sowie, mehr einleitend, grundlegende, auf Vollständigkeit ausgerichtete Untersuchungen zum ‘klassischen’ Repertoire des Künstlers. Der Untertitel dieser Studie ist also wörtlich zu nehmen, wäre allenfalls umzudrehen; Flamme schreibt jedenfalls keine Gulda-Biographie (die der Rezensent gern gelesen hätte). Er handelt die wichtigsten biographischen Eckdaten sehr knapp auf gut acht Seiten ab, kommt allerdings im Verlauf der folgenden Sachuntersuchungen immer wieder auch auf den Lebensweg des Künstlers zurück. Wo wäre sie einmal gelungen, die Trennung von Leben und Werk?

Wer sich wissenschaftlich mit dem Werk großer Interpreten befasst, ist meist genötigt, bei Null anzufangen: „Eine Gulda-Forschung ist praktisch nicht vorhanden. Dies gilt sowohl für den Bereich des Interpreten als auch den des Komponisten…“ (S. 2). Diese Feststellung ließe sich problemlos erweitern um eine Menuhin-Forschung, eine Solti-, eine Horowitz-Forschung und was dergleichen mehr sein mag. Mittlerweile finden sich (in der Regel im Internet) zum Teil ausnehmend gute Diskographien zu einigen Künstlern: meist das Werk ambitionierter ‘Klassik-Freaks’, selten jedoch ohne die Möglichkeit, die Angaben zu verifizieren. Das bemerkenswert umfangreiche kompositorische Œuvre Friedrich Guldas hat bislang so gut wie gar keine wissenschaftliche Würdigung erfahren; nur ein Bruchteil des Werkes ist überhaupt ediert. Der künstlerische Nachlass Guldas bietet dem Wissenschaftler also in jeder Hinsicht eine Menge Arbeit, und Flamme nimmt diese Herausforderung beherzt und engagiert an. Allein seine Darstellung des kompositorischen Werks – um mit dem zweiten Teil zu beginnen – verdient hohe Anerkennung. Auch wenn Gulda nicht zum Prototyp des Wunderkindes zu zählen ist, wie Flamme zurecht anmerkt (S. 5), so nötigt die schier unfassbare musikalische Begabung dieses Mannes höchste Bewunderung ab. Erste kompositorische Versuche sind seit den späten dreißiger Jahren nachweisbar (Gulda war gerade einmal neun Jahre alt). Der chronologisch angelegte Werkkatalog, den Flamme bietet, und der, wie erwähnt, den Löwenanteil der Studie ausmacht, ist nicht ‘klassisch’ angelegt, aber durchweg informativ und in allererster Linie auf die musikalische Erschließung des Materials ausgerichtet: Angaben zur Provenienz der Quellen sowie zu deren näherer Beschaffenheit werden mehr summarisch und en passant gegeben: sicher eine lässliche Sünde angesichts der zum Teil sehr umfangreichen und detaillierten Analysen, die der Autor zu jedem Stück liefert. Der Katalog enthält mehr als 400 teilweise umfangreiche Notenbeispiele: nicht allein Incipits, sondern oftmals weitere Ausschnitte, die das Nachvollziehen des Aufbaus eines Werkes erleichtern sollen. Das Gesamtœuvre ist überraschend groß und vielgestaltig; es umfasst ca. 200 Kompositionen aus fast 60 Jahren, angefangen von den ersten kompositorischen Schritten im Kindesalter über die Ausbildung in Wien bei Joseph Marx, dann die zahlreichen kompositorisch manifest gewordenen Grenzgänge zwischen klassischer Form und den unterschiedlichsten Jazz-Einflüssen ab den fünfziger Jahren, später die – zurückhaltend formuliert – aufsehenerregenden Kompositionen mit autobiographischem Bezug bis hin zu den letzten kompositorischen Arbeiten, die in enger Verbindung zu seinen späten Konzertauftritten stehen und die immer wieder um Mozart kreisen. Alles dies wird von Flamme mit großer Behutsamkeit und Umsicht in die Hand genommen, sortiert, analysiert und stilistisch eingeordnet. Dennoch haftet diesem Werkkatalog etwas Gespenstisches an: Flamme selbst weist wiederholt darauf hin, dass fast das gesamte kompositorische Schaffen Guldas auf das engste mit der Person des Komponisten verknüpft ist; eine ‘Wiedererweckung’ des guldaschen Œuvres erscheint so kaum denkbar, nicht zuletzt auch aufgrund des technischen Schwierigkeitsgrads vor allem des Klavierwerks. Gulda selbst schien an einer weiteren Verbreitung seines Werkes nur wenig interessiert, und Flamme schreibt am Ende seiner Ausführungen (ganz ohne Selbstmitleid): „Die meisten Kompositionen wurden jeweils schwerpunktmäßig in bestimmten Phasen von Gulda gespielt und verschwanden danach meist. Da besonders für die Stücke mit Klavier ein Pianist verlangt wird, der über eine an der klassischen, romantischen und impressionistischen Virtuosenliteratur geschulte Klaviertechnik verfügt, gleichzeitig aber Improvisationsfähigkeiten in verschiedenen Jazzbereichen besitzt, ist die Anzahl der möglichen Interpreten äußerst eingeschränkt. Die enorme Schwierigkeit fast aller guldaschen Kompositionen und die Tatsache, dass Gulda die meisten Werke dezidiert für sich – und damit seine spezifischen technischen, stilistischen und improvisatorischen Kapazitäten berücksichtigend – auf den Leib geschrieben hat (welcher andere Pianist würde schon ein Stück spielen, das Concerto for Myself betitelt ist?), macht die Rezeption des Komponisten Friedrich Gulda von ihrem idealen Interpreten abhängig, mit dessen Tod sie dann nahezu abgeschnitten wurde.“ (S. 441). Tatsächlich beackert Flamme, drastisch gesagt, ein kompositorisches Gräberfeld, ein Gesamtschaffen, das als kulturhistorischer Beitrag zur Musik eines Mannes, der zu den bedeutendsten Pianisten aller Zeiten zählt, von einem gewissen Interesse ist, das jedoch schon heute, nur acht Jahre nach Guldas Tod, längst Vergangenheit ist.

Die Untersuchung der Repertoireentwicklung Guldas im ersten Teil der Studie ist weithin systematisch angelegt und droht den Leser mit einer Fülle von Details fast zu erschlagen. Hier scheinen Mängel in der Konzeption nicht vollständig beseitigt worden zu sein. Etliche Daten hätten besser in Tabellenform dargestellt oder in einen Anhang übergeführt werden sollen. Auch ist es irritierend bis ermüdend, ein und dieselbe Sachinformation gleich zwei- oder dreimal geliefert zu bekommen (so etwa S. 17, 40 und 61). Schwerpunkte des Repertoires waren bekanntermaßen Beethoven, Bach und Mozart. Das Tonträger-Verzeichnis am Ende des Buches schließlich kann sinnvoll nur in Verbindung mit den Einzelkapiteln zur Repertoireentwicklung, jedoch kaum für sich allein benutzt werden. Eine Angabe wie „Friedrich Gulda. Piano (Aufnahmen 1957, 1967), 4 CDs, Andante AN 2110, 2005“ (S. 465) lässt den Neugierigen ziemlich ratlos zurück. Erst nach dem geduldigen Studium hunderter von Fußnoten weiß er, dass diese Box offenbar Werke von Debussy, Ravel und Schubert enthält.

Zwei Bemerkungen zum Schluss:

  1. Ungeachtet aller kleinlich sich ausnehmenden Einwände im Detail liegt hier eine wertvolle, wichtige und gehaltvolle Studie vor, die üppig ausgestattet und von verlegerischer Seite her erkennbar gut betreut worden ist. Niemand, der sich künftig näher mit Guldas Kunst auseinandersetzen möchte, wird an Flammes Studie vorbeigehen können.
  2. Mögen Guldas Kompositionen der Vergessenheit anheim gefallen sein; vor allem seine beiden Gesamtaufnahmen der Beethoven-Klaviersonaten – mittlerweile für einen Spottpreis zu haben – finden bis heute weite Verbreitung und sind immer noch (vielleicht mehr denn je) bestens geeignet, die Erinnerung an diesen genialen Künstler zu bewahren.

Ulrich Bartels
(Göttingen) März 2008